Zum Welt-Duchenne-Tag: Wie Leon trotz seiner seltenen Erkrankung das Leben rockt und wie seine Familie für mehr Respekt und Inklusion kämpft – oder die kurze Erzählung vom langen, anstrengenden Lauf des Lebens.

Berlin, 07. September 2021
Ein kleiner Junge sitzt auf dem Rücksitz im Auto. Vorne sitzt die Mutter und trällert typische Kinderlieder. Da sagt der kleine fünfjährige Knirps zu seiner Mama: „Mach mal Musik an!“

Nein, das ist kein Mutter-Sohn-Witz, sondern eine Anekdote, die schon einige Zeit zurückliegt, die aber viel erzählt über den mittlerweile 13-jährigen Leon, über seine starke Persönlichkeit, seinen unbändigen Willen, seine besondere Sicht auf die Welt. Und seinem etwas ausgefallenen Musikgeschmack. Denn Musik, das waren für Leon keine Kinderlieder, sondern – bis heute – beinharte Rocksongs. „Buddy, you’re a boy, make a big noise, playing in the street, gonna be a big man someday“. Die ersten zwei Textzeilen aus „We Will Rock You“ seiner Lieblingsband Queen. Und so wie es im Song heißt: „Kumpel, du bist ein Junge, machst einen großen Lärm, spielst auf der Straße, wirst eines Tages ein großer Mann sein“, so „laut“ ist auch Leon im wirklichen Leben unterwegs. Ein junger Mann, ein junger Rocker, der weiß, was er will. Diese Kraft, diesen Lärm braucht er, um sichtbar zu sein, sichtbar zu bleiben. Denn Leon ist an Duchenne-Muskeldystrophie (DMD), an lebensbedrohlichem Muskelschwund, erkrankt. Vieles hat sich verändert in seinem Leben; nur sein Mut, seine Stärke und, nicht zuletzt, sein Musikgeschmack, sind gleichgeblieben.

Mittlerweile sitzt Leon meistens im Rolli, seinem elektrischen Rollstuhl. Nur noch kleine Strecken kann er gehen. Meist den Weg ins Badezimmer oder in die Küche, wo er morgens vor der Schule seine Lieblingsspeise, Pfannkuchen mit Nutella, verspeist. Das, was davon übrigbleibt, verputzt Lucky Drops, ein Schäferhundmix aus Rumänien – sein Kumpel. Bis hierher war es ein weiter Weg. Leons Leben eine Berg- und Talfahrt. Auf Krise folgt Hoffnung und auf Hoffnung die nächste Krise. Ein langer Kampf, den nicht nur Leon, namentlich der Löwe, jeden Tag aufs Neue kämpft, sondern auch seine Mutter, Nicole Mainz.

Dabei war eigentlich alles normal: Leon ein niedliches Baby und Mutter Nicole eine überglückliche Mutter. Zuerst entwickelte sich ihr Wunschkind auch völlig normal – keine Auffälligkeiten. Obwohl: Wenn Nicole Mainz ihn wickelte, dann hatte er Schmerzen, genau dann, wenn Mama die Beine anhob. Oder er weinte, wenn er auf seinen Popo fiel, was immer öfter vorkam. Komisch, dachte sie und konsultierte den Kinderarzt. Aber was mit Leon wirklich los ist, das erfuhr Nicole Mainz erst zweieinhalb Jahre später. Nach vielen Besuchen in Kinderarztpraxen und Krankenhäusern für Neuropädiatrie. Meistens wimmelten Ärzte sie ab, beschwichtigten die Experten. Erst als eine dritte hinzugezogene Ärztin sie zu einem Facharzt in ein Sozial-Pediatrisches-Zentrum verwies, wo sie Leon einem Bluttest unterzogen, fiel selbst der behandelnde Arzt angesichts der extrem erhöhten Werte im Blut aus allen Wolken. Nach all den Jahren, in denen die Ärzte meinten, sie solle sich keine Sorgen machen, erfuhr sie nach einem weiteren Gentest, auf dessen Ergebnis sie ganze fünf Monate warten musste, von der schwerwiegenden, lebensverkürzenden Erkrankung ihres Sohnes: Duchenne-Muskeldystrophie. Eine seltene Erbkrankheit, die fast ausschließlich Jungen trifft, in einer Frequenz von 1:5000. Das erste Symptom der Duchenne-Muskeldystrophie ist häufig, dass die Kinder eine motorische Entwicklungsverzögerung zeigen, das heißt, die betroffenen Kinder kommen später als andere Kinder zum Krabbeln, flitzen weniger herum und fallen mehr hin. Ursache ist eine genetische Veränderung, durch die das Eiweiß in den Muskeln nicht richtig gebildet und abgebaut wird. Eine harte Diagnose, denn nach und nach sind alle Muskeln im Körper betroffen. Zuerst die Muskeln der Beine und Arme, dann die der Hände und Füße, später auch Muskeln, die für die Atmung zuständig sind. Und das Herz. Klar, Leben ist Veränderung, aber was, wenn man alles tut, damit sich nichts verändert? Damit alles so bleibt, wie es gerade ist, damit die schwere Erkrankung nicht weiter fortschreitet?!

„Man kann nichts tun bei der Krankheit, aber ich will nicht zuschauen, ich muss weitermachen“, sagt die Mama; „Ich lebe das Leben, so wie ich es will“, sagt der Sohn. Zukunft ist nichts, was Familie Mainz widerfährt, sondern was sie sich erkämpfen muss. Als mittlerweile ausgebildete Meisterin im Berge-Versetzen, kämpft Nicole Mainz jeden Tag für Leons Recht auf ein besseres und selbstbestimmtes Leben: „Für die Zukunft wünsche ich mir echte Inklusion, denn die gibt es nicht. Leon wird in seinem E-Rolli meist interessiert beäugt, vulgo angegafft, weil die meisten Menschen den Anblick nicht gewohnt sind. Dabei will ich ein besseres Leben auf beiden Seiten, für Behinderte und Nicht-Behinderte“. So kämpft sie nicht nur für mehr Inklusion und Respekt, sondern auch für geeignete Medikamente und Therapien, für eine nervenaufreibende Operation, die Leons Gehfähigkeit verbesserte, für den Integrationsplatz im Kindergarten, für eine barrierefreie Schule, auf der Leon sein Abitur machen kann, für eine Fachkraft, die Leon in Coronazeiten im Homeschooling und Nicole Mainz im Alltag unterstützt: „Ich wünsche mir jemanden für Leon, der mit ihm rausgeht, mal ins Kino oder auf die Spielemesse „gamescom“, jemand, der mit ihm spielt“.

„Meinen Respekt für Leon! Und meinen Respekt für Frau Mainz! Ihr Kampf zeigt aber mal wieder auf drastische Weise, wie allein Familien mit behinderten und lebensverkürzend erkrankten Kindern auf weiter Flur sind; und mit welch teils unüberwindbaren Hürden sie jeden Tag zu kämpfen haben“, sagt Sabine Kraft, Geschäftsführerin des Bundesverbands Kinderhospiz. „Nicht nur der Weg zur Diagnose einer seltenen Erkrankung ist eine Odyssee, sondern auch der Alltag danach“, ärgert sich Kraft, „denn nicht jede und jeder hat die Expertise, die Energie und die Zeit sich durch den Behördendschungel zu kämpfen und sich die Hilfen zu holen, die den betroffenen Familien mit schwerkranken Kindern und Jugendlichen zustehen“.

Leon, der Zocker, der am liebsten das Computerspiel „Mindcraft“ mit seinen Freunden spielt; Leon, der Filmfan, der Anime-Filme rauf und runter schaut; Leon, der Wissensdurstige, der sich alle Wissenschaftssendungen auf YouTube reinzieht; Leon, der Tierliebhaber, der sich, neben seiner Hündin Lucky Drops, am meisten für Insekten interessiert (Mama Mainz musste bereits ganze Ameisenkolonien des Hauses verweisen); Leon, der Umsichtige, der meist mehr über die Gefühle der anderen als über seine eigenen reflektiert. Leon, der Löwe, dessen zweiter Name Stavros ist, was auf Griechisch Kreuz heißt. Wie passend für diesen jungen Mann, der nicht nur sein Leben rocken, sondern es sicher auch eines Tages mit der Welt aufnehmen wird, so wie seine Freunde von Queen es vor langer Zeit schon prophezeiten: „Buddy, you’re a young man, hard man; shouting in the street, gonna take on the world someday“.

Kleine Anleitung für den Welt-Duchenne-Tag: Weltweit lassen Betroffene und ihre Angehörigen am Dienstag rote Luftballons in den Himmel steigen. Leon und seine Mutter machen das auch, allerdings virtuell, weil das aus ihrer Sicht umweltfreundlicher ist. Eine der vielen Ideen von Leon, die rockt!