Zum Welthirntumortag: Wie ein junger Mann und seine alleinerziehende Mutter seit 10 Jahren gegen einen Hirntumor kämpfen.

Berlin, 08. Juni 2021
Wenn er könnte, wie er wollte, würde er sicherlich Formel 1-Rennfahrer oder Profi-Fußballspieler werden. Den nötigen Mut, den Biss und die Stärke dazu hätte der leidenschaftliche Sportfan auf jeden Fall. Als junger Erwachsener steht einem bekanntlich die große, weite Welt offen. Normalerweise. Die Welt von Raphael dagegen ist winzig und bemisst sich völlig anders: Maximal 200 Meter kann der 18-Jährige gehen, dann braucht er seinen Rollstuhl oder Rollator. Während andere ihr Leben in Marathondistanzen vor Augen haben, ist Raphael auf der Kurzstrecke unterwegs. Während andere ihre Lebenspläne der Selbstoptimierung unterwerfen, ist das Leben von Raphael aufs Überleben programmiert.

Denn in Raphaels Kopf steckt ein Fibrilläres Astrozytom. Ein seltener Hirntumor, der die Kraft hat, einen Strich durch alle seine Lebenspläne zu machen. Die entscheidende Diagnose in diesem Fall: Gutartig. Allerdings ist gutartig nur so lange gut, bis Raphaels Tumor anfängt, Probleme zu machen, wie unter anderem die Lähmungen im Gesicht und den Beinen, starke Muskel- und Bauchschmerzen, extreme Hautausschläge und -entzündungen sowie die Neurofibromatose – aber das ist noch mal eine ganz andere Geschichte.
Rund 500 Kinder und Jugendliche erkranken jedes Jahr in Deutschland an einem Hirntumor. Hirntumore sind die zweithäufigste Krebsart bei Kindern und Jugendlichen. Nach der Diagnose steht den jungen PatientInnen statt ungetrübter Kindheit meist ein langer Leidensweg bevor.

So auch bei Raphael und seiner Familie. Denn da, wo der Tumor liegt, gilt er als inoperabel. Nicht groß, nur wenige Gramm schwer, doch unerreichbar hat sich dieser Zellklumpen am Hirnstamm angesiedelt, genau dort, wo die Steuerung der Sinnesorgane und Atmung, der Sprache und Bewegung verortet ist. Eine verirrte Zellansammlung, die da nicht hingehört und die langsam vor sich hin- und in den Hirnstamm hineinwächst. Ein Tumor im Kopf, der damit zur umkämpften Zone geworden ist. Der Gefechtsplan: Watch and wait! Spätestens alle drei Monate wird Raphaels Kopf im MRT untersucht – spätestens alle drei Jahre rücken die Ärzte dem langsam wachsenden Tumor mit Chemotherapien zu Leibe. Und so trennt das Fibrilläre Astrozytom seit seiner Entdeckung 2011 das Leben von Raphael unerbittlich in ein Vorher und ein Nachher.

Dabei war sein Leben schon vorher nicht das normalste, denn der leidenschaftliche BVB- und Formel-1-Fan ist Autist und gibt damit dem Familienleben seinen eigenen Takt vor. Alles muss gut strukturiert und vorbereitet sein, da ist wenig Platz für Spontanes, Unkontrolliertes – oder so etwas Unberechenbares wie ein Hirntumor. Eine immense Herausforderung für die ganze Familie: Für die alleinerziehende Mama Gisela und für den drei Jahre älteren Bruder Marvin. Das einzige Familienmitglied, das noch Unbeschwertheit, Leichtigkeit und Gelassenheit verströmt, ist Mischlingshund Laiko, der, wenn er nicht gerade mit Raphael schmust oder spielt, ihn überall hinbegleitet.

„Sicherlich ist es leichter aufzuzählen, was Raphael alles nicht hat oder hatte. Dabei ist er so tapfer. Ein absoluter Kämpfer“, sagt Mama Gisela stolz und erzählt von einer der vielen Operationen im Krankenhaus, als ihr Sohn kurz vor der neunstündigen OP, in der ihm eine am Tumor gewachsene Zyste entfernt werden sollte, zu seiner Mama sagte, sie solle doch nicht weinen, denn schließlich weine er auch nicht. Raphael wurde in den OP geschoben – die Tür schloss sich hinter ihm. Und Mama Gisela brach zusammen.

„Nicht nur Raphael ist ein Kämpfer, seine Mama ist es auch“, stellt Sabine Kraft als Geschäftsführerin des Bundesverband Kinderhospiz bewundernd fest. „Kleine Kinder und Jugendliche und ihre Familien trifft die Diagnose Hirntumor besonders hart. Eigentlich haben sie ihr ganzes Leben noch vor sich, aber dann ist plötzlich alles ganz anders. Statt Unbeschwertheit und Kindheit stehen Operationen, Strahlentherapie oder Chemotherapie auf dem Stundenplan. Für die betroffenen PatientInnen und ihre Familien ist es so ungeheuer wichtig, Unterstützung und Hilfsangebote anzunehmen und sich Kraftquellen zu erschließen, wo die Erschöpfung von der Pflege, die Kämpfe mit den Ärzten und Behörden und die Sorge um die Kinder aufgefangen wird“, berichtet Kraft.

Eine dieser wichtigen Kraftquellen steuern Mama Gisela, Raphael und Laiko in den Sommerferien wieder an: Das Kinder- und Jugendhospiz Joshua Engelreich in Wilhelmshaven. Seit 2015 gönnen sie sich zweimal im Jahr diese Auszeit. Ein Zuhause auf Zeit – für zwei Wochen im Jahr. Hier müssen keine Erwartungen erfüllt, keine Fassaden aufrechterhalten werden. Mama Gisela ergänzt: „Dort genießen wir die Zeit und Raphael hat dort seine Ruhe. Alle kümmern sich rührend um ihn und er fühlt sich pudelwohl“. Und dann vergessen die beiden glatt, weshalb sie da sind, an diesem Ort, an dem gelebt – und an dem gestorben wird.

„Nein“, protestiert Raphael, „das ist kein Sterbehospiz – wir fahren zur Erholung dahin“. Vielleicht wird Raphael mit dem Fibrillären Astrozytom und seinem Kampfgeist ganz alt. Vielleicht kann er noch ganz viele Pläne in seinem Leben realisieren. Sicher ist auf jeden Fall sein Plan für die kommende Zeit im Joshua Engelreich: Zusammen mit den HospizmitarbeiterInnen sein Lieblingsspiel spielen: Das „Spiel des Lebens“.